Der Spiegeltest ist eine Methode, mit der nachgewiesen werden soll, ob Tiere sich im Spiegel selbst erkennen und ein Selbstbewusstsein haben. Bisher soll dieser Nachweis nur bei Menschenaffen (Schimpansen, ev. Orang-Utans) gelungen sein.
In der Studie von Kohda et al. (2019) wurde der Spiegeltest zum ersten Mal bei einer Fischart – dem Gemeinen Putzerfisch (Labroides dimidiatus) – durchgeführt. Die Autoren kamen darin zum Schluss, dass drei der vier getesteten Putzerfische den Spiegeltest bestanden haben. Die Fische waren an der Kehle via Injektion mit einer braunen Markierung versehen worden, die einen Parasiten simulierte (Putzerfische entfernen anderen Meeresbewohnern Parasiten von der Haut). Konnten sich die Fische im Spiegel sehen, versuchten sie diese Markierung mittels Kratzen zu entfernen. Daraus schlossen die Autoren der Studie, dass die Fische sich selbst im Spiegel wahrnahmen.
Kritiken an der ersten Studie
Allerdings wurden von anderen Forschern (Gallup 2019, de Waal 2019) einige Kritikpunkte an der Studie erhoben. Unter anderem wurde die geringe Anzahl Fische kritisiert, die für die Studie verwendet wurden. Zudem wurde argumentiert, dass die Fische sich am Hals kratzten, weil sie die Markierung spürten und sie im Spiegel sahen, und nicht, weil sie sich selbst im Spiegel erkannten.
Neue Experimente bestätigen Selbsterkennung bei Putzerfischen
Kohda und seine Kollegen haben deshalb weitere Experimente durchgeführt, mit denen sie diesen Kritiken an ihrer ersten Studie begegnen wollten. Und sie kommen in dieser Folgestudie erneut zum Schluss, dass sich die Putzerfische tatsächlich im Spiegel selbst erkennen. Sie führten eine Reihe von sechs Experimenten durch, deren Resultate in ihrer Gesamtheit weitere Beweise lieferten, mit denen sie die Resultate aus der ersten Studie untermauern konnten. Auch in diesen Experimenten bestanden die Putzerfische den Spiegeltest und versuchten, die Markierung an der Kehle mit Kratzen am Bodensubstrat zu entfernen.
Bisher grösste Anzahl im Spiegeltest getestete Tiere
In der Nachfolgestudie erhöhten Kohda und Kollegen die Stichprobe und kamen nun zusammen mit der ersten Studie auf insgesamt 18 getestete Fische. Dies ist die grösste Studiengruppe, die bisher in einem Spiegeltest eingesetzt wurde. Und die Putzerfische bestanden den Test mit einer hohen Erfolgsquote: 17 von 18 Fischen erfüllten die Kriterien für den Spiegeltest.
Ökologische relevante Reize ausschlaggebend
Allerdings war die Reaktion der Putzerfische von der Art der Markierung abhängig. Es funktionierten nur Markierungen, die ökologisch relevante Merkmale aufweisen: Nur eine braune Markierung, die einem Parasiten ähnelt, löste das Kratzverhalten aus, blaue oder grüne Markierungen hingegen nicht. Die Autoren weisen deshalb darauf hin, dass es in Verhaltenstests äusserst wichtig ist, die Testbedingungen auf das Verhalten und die Ökologie der jeweils getesteten Art auszurichten, und somit auch im Spiegeltest.
Die Markierung juckt sie nicht
Ein Schwachpunkt der Studie ist die Markierung. Sie erfolgt über eine Injektion unter die Haut und wird nicht aufgemalt, wie sonst im Spiegeltest. Allerdings sahen die Autoren keine andere Möglichkeit, um die Markierung anzubringen. Sie konnten indes zeigen, dass eine Markierung, die tiefer (3mm) in die Haut gespritzt wurde und somit kaum sichtbar war, das Kratzen unabhängig davon auslöste, ob ein Spiegel vorhanden war oder nicht. Demzufolge braucht es bei einem schmerzhaften oder juckenden Reiz keinen Spiegel, um das Kratzen auszulösen. Daher gehen die Autoren davon aus, dass die übliche, sichtbare Markierung (1mm unter Haut) keine Irritation verursacht, weil die Fische bei dieser Markierung sich nur dann kratzten, wenn sie diese im Spiegel sehen konnten.
Es braucht den Spiegel: Markierte Artgenossen lösen kein Kratzverhalten aus
Zudem konnten die Autoren zeigen, dass der visuelle Reiz tatsächlich vom Spiegelbild herrühren muss, damit das Kratzverhalten ausgelöst wird. Dazu konfrontierten sie die Putzerfische mit markierten Artgenossen. Und tatsächlich zeigten sie in dieser Situation kein Kratzverhalten. Das heisst, sie müssen die Markierung an sich selbst sehen können. Sie können also lernen, dass ein Spiegelbild sie selbst darstellt und dieses Wissen nutzen, um etwas vom Körper zu kratzen, das aussieht wie ein Parasit. Voraussetzung für eine Selbsterkennung scheint die Erfahrung mit Spiegeln zu sein: Putzerfische ohne diese Erfahrung kratzten sich gar nicht oder weniger oft als solche mit Spiegel-Erfahrung.
Verhalten und Ökologie müssen im Experiment berücksichtig werden
Die Autoren empfehlen, die Aussagekraft des Spiegeltests und die Interpretation der Resultate in weiteren Studien zu untersuchen. Erstaunlicherweise bestehen verschiedene andere Wirbeltiere mit grossen Gehirnen den Spiegeltest nicht. Auch Putzerfische sind sehr intelligente Fische. Durch ihre Lebensweise im Riff begegnen sie immer wieder Situationen, in denen sie lernen und flexibel reagieren müssen. Zudem haben die Autoren eine Versuchsanordnung gewählt, die sehr nah an der Ökologie der Fische ist (Putzerfische entfernen anderen Fischen Parasiten von der Haut, daher sind braune Punkte auf der Haut für sie ökologisch relevant). Das scheint ein wichtiger Faktor zu sein, das Tiere den Spiegeltest bestehen können.
Graduelle Unterschiede im Selbstbewusstsein
Ob mit dem Spiegeltest nun Selbstbewusstsein nachgewiesen wurde, können die Autoren nicht beantworten. Wie Frans de Waal (2019) sind sie jedoch der Meinung, dass ein Organismus nicht entweder Selbstbewusstsein hat oder nicht. Sondern sie gehen davon aus, dass der Grad an Selbstbewusstsein sich von Art zu Art unterscheidet und dies unabhängig davon ist, wie ein Tier im Spiegeltest abschneidet. Und sie bleiben bei der Aussage der ersten Studie, dass entweder der Spiegeltest als Nachweis für Selbstwahrnehmung oder das Konzept des Selbstbewusstseins kritisch hinterfragt werden müsse.
Die 6 Experimente
Im folgenden sind die sechs Experimente beschrieben, die Kohda und Kollgegen durchgeführt haben.
Als erstes wollten die Autoren testen, ob die Resultate aus dem früheren Spiegelexperiment mit einer grösseren Anzahl Fische und zudem von anderen Forschern, die nicht zum ersten Forscherteam gehörten, wiederholt werden können. Dazu setzten sie acht Fische ein. Nur die Fische, die eine braune Markierung erhalten hatten und sich im Spiegel sehen konnten, kratzten sich an der Kehle. Sie positionierten sich so, dass sie sich im Spiegel sehen konnten. Waren die Fische nicht markiert oder mit einer farblosen Markierung, zeigten sie in Gegenwart eines Spiegels kein Kratzverhalten. War der Spiegel bedeckt, löste auch die braune Markierung kein Kratzen aus. Die Fische bestanden also alle den Spiegeltest.
Des Weiteren untersuchten die Forscher bei weiteren sechs Fischen, ob die braune Farbe ausschlaggebend war, dass sich die Fische den Hals kratzen, wenn sie die Markierung im Spiegel sehen. Sollten Putzerfische nur auf ökologische relevante Reize reagieren, sollten blaue oder grüne Markierungen keine entsprechende Reaktion auslösen. Weder die blaue noch die grüne Markierung löste Kratzen am Hals aus, die braune Markierung hingegen löste das Kratzen am Hals aus.
Die Autoren schliessen aus den Resultaten, dass ein visueller Reiz sowohl deutlich sichtbar sein als auch eine negative Bedeutung haben muss. Das heisst, nur eine Markierung, die einem Parasiten ähnlich und somit ökologisch relevant war, kann das am Kratzverhalten auslösen
Im nächsten Schritt untersuchten sie, ob die Fische nur auf die Markierung, also einen physischen Reiz, reagieren, weil sie sie spüren. Dazu injizierten sie bei sechs Fischen die Markierung tiefer (3 mm) in die Haut als üblich (1mm), so dass sie kaum mehr sichtbar war. Die Erwartung: Kratzen sich die Fische ohne Spiegel mit der tieferen Markierung, nicht jedoch mit der üblichen Markierung, würde das darauf hindeuten, dass die Markierung tatsächlich eine Irritation ausübt. Tatsächlich kratzten sich die Fische dieses Experiments mit oder ohne Spiegel gleich häufig. Dies zeigt, dass es für einen schmerzvollen oder juckenden Reiz keinen Spiegel braucht, um das Kratzen auszulösen.
Die Autoren schliessen aus den bisherigen drei Experimente, dass die Standardmarkierung weder schmerzhaft ist noch juckt und dass das Kratzen am Hals in Gegenwart eines Spiegels nur auftritt, weil die Markierung einem Ektoparasiten gleicht.
Für dieses Experiment markierten sie neun Fische, die keine Erfahrung mit Spiegeln hatten (naive Fische), und präsentieren ihnen Spiegel. Sie erwarteten, dass die naiven Fische nicht oder weniger auf eine Markierung reagieren sollten, weil sie sich im Spiegelbild nicht als sich selbst erkennen. Die Kratzfrequenz war denn auch signifikant tiefer als diejenige, die die Spiegel-erfahrenen Fische aus den Experiment 1 und 2 aufwiesen. Allerdings begannen sich 5 von 9 dieser Fischer innerhalb von 2 Stunden zu kratzen, was darauf hinweist, dass die Fische schnell lernen ihr Spiegelbild zu erkennen.
In einem neuen Testdesign setzten sie 6 Fische ein. Sie markierten jeweils 2 Fische, die Erfahrung mit dem Spiegel hatten, und hielten sie so, dass sie einander durch eine durchsichtige Trennwand sehen konnten. Innerhalb von 2 bis 3 Tagen zeigten die Fische einander gegenüber stark reduziertes Aggressionsverhalten. Nach 4 Tagen wurden beide Fische markiert. Würden sie durch die Markierung beim Artgenossen an die eigene Markierung erinnert, könnte man erwarten, dass die Fische sich am Hals kratzen. Keiner der sechs Fische zeigte jedoch das Kratzverhalten.
Die Resultate zeigen, dass ein visueller Reiz, der ökologische Relevanz aufweist, allein nicht genügt, um bei einem anderen Individuum das Kratzverhalten auszulösen. Die Fische müssen sich also im Spiegel sehen können und sie müssen eine Beziehung zwischen den eigenen Bewegungen und dem Spiegelbild herstellen können, um den Spiegeltest bestehen zu können.
Im letzten Experiment änderten sie die Position des Spiegels, sobald die Fische keine Aggressionen gegenüber ihrem Spiegelbild mehr zeigten. Würde das Verschieben des Spiegels erneut das Aggressionsverhalten auslösen, dann hätte der Fisch nur eine räumliche Beziehung erlernt, was gegen eine Selbsterkennung sprechen würde. Keines der sechs Individuen zeigte aggressives Verhalten gegenüber dem Spiegel, unabhängig von dessen Position.
Die Resultate zeigten, dass die Putzerfische nicht einfach durch räumliches Lernen ihr Aggressionsverhalten kontrollierten, sondern durch das Erkennen der eigenen Merkmale im Spiegel, und zwar unabhängig davon, wo dieser Spiegel steht. Allerdings zeigt das Fehlen der Aggression für sich alleine noch nicht, dass sich die Putzerfische im Spiegelbild selber erkennen. Es könnte auch sein, dass sie sich an das Spiegelbild eines anderen Individuums gewöhnt hatten und deshalb keine Aggression zeigten, egal wo sie es sahen. Berücksichtigt man die Ergebnisse aus den anderen Experimenten, dann sprechen auch diese Ergebnisse für ein Selbsterkennen im Spiegel.