In der Forschung zur Intelligenz stellen sich Forscher:innen unter anderem die Frage, ob Tiere nur in der Gegenwart leben oder ob sie auch die Zukunft vorwegnehmen können. Daher wird beispielsweise untersucht, ob Tiere ihr Verhalten kontrollieren und warten können, wenn sie wissen, dass später etwas Besseres kommt.
Warten oder sofort zugreifen
Inspiriert vom Marshmallow-Test bei Kindern hat man für Tiere einen entsprechenden Test zu diesem Belohnungsaufschub entwickelt. Dabei können die Tiere wählen, ob sie sofort eine kleine Belohnung wollen oder auf diese verzichten und warten, bis mehr bzw. eine bessere Belohnung kommt. Üblicherweise besteht die sofortige Belohnung aus weniger begehrtem Futter, die spätere Belohnung hingegen aus dem bevorzugten Futter oder einer grösseren Portion Futter.
Das Warten erfordert eine gewisse Selbstkontrolle, das heisst, die Tiere müssen der Versuchung widerstehen, das Futter sofort zu vertilgen. Was wiederum gewisse kognitive Fähigkeiten voraussetzt, die erforderlich sind, um Entscheidungen zu treffen, zielgerichtetes Verhalten auszuüben und zukunftsorientiert zu planen.
Der klassische Marshmallow-Test beinhaltet folgendes: Ein vierjähriges Kind sitzt allein am Tisch, vor sich eine Süssigkeit. Von der Versuchsleiterin wurde ihm zuvor mitgeteilt, dass es die Süssigkeit durchaus essen könne, würde es aber warten, bis sie nach 15 Minuten zurückkomme, würde es ein zweites Stück erhalten. Können sich die Kinder so lange zurückhalten, verfügen sie über Selbstkontrolle? Die meisten Kinder schafften es nicht, eine Viertelstunde zu warten. Zudem unterschieden sich die Kinder in den Wartezeiten, also wie lange sie warteten, bis sie zugriffen. Diese Studien hat der amerikanischen Psychologen Walter Mischel* in den 70er Jahren erstmals durchgeführt.
Verschiedene Tierarten können ihr Verhalten kontrollieren
Dieser Test wurde später bei verschiedenen Tierarten angewendet, um herauszufinden, ob auch Tiere Selbstkontrolle zeigen und auf eine sofortige Belohnung zu verzichten können, wenn eine bessere Belohnung winkt, zum Beispiel ein grösseres oder schmackhafteres Futterstück.
Schimpansen, Bonobos, verschiedenen Makaken- und Krallenaffenarten, Rabenvögel, Kakadus, Tauben, Ratten und Haushunde können die Aufgabe erfüllen. Dies sind alles Arten, die sozial leben und auch reziproke Kooperation zeigen, wie zum Beispiel die Fellpflege bei Affen: «Laust du mich jetzt, so lause ich dich später auch.» Daher ging man davon aus, dass die Entwicklung von Selbstkontrolle durch soziales Verhalten begünstigt wurde.
Allerdings schneiden nicht alle Arten gleich gut ab, die Wartezeiten reichen von einigen Sekunden bis einige Minuten. Dafür gibt es verschiedene mögliche Erklärungen. Eine davon ist die Grösse des Hirns: Je grösser das Hirn, desto besser das Ergebnis. Andere Erklärungen stützen sich eher auf die ökologischen Lebensbedingungen. Beispielsweise kann die Art des Futters, das die Tiere fressen, oder die Verteilung des Futters im Lebensraum, einen Einfluss darauf haben, wie die Tiere im Test abschneiden. Und auch die Domestikation kann eine Rolle spielen, denn unsere Haushunde sind die Champions in diesem Test.
* Mischel, W., Shoda, Y., Rodriguez, M., 1989. Delay of gratification in children. Science 244, 933-938.
Fische und Tintenfische gleichauf mit Säugern und Vögeln
Bisher ging man davon aus, dass es eine gewisse Hirngrösse und -komplexität braucht, wie sie Säuger und Vögel aufweisen, um diese Aufgabe zu meistern. Doch nun zeigen aktuelle Studien, dass auch der Gemeine Putzerlippfisch (Labroides dimidiatus) (Allen et al. 2021) und der Gewöhnliche Tintenfisch (Sepia officinalis) (Schnell et al. 2021) diese Art der Selbstkontrolle zeigen und lieber auf eine bessere Belohnung warten, in diesem Fall Garnelen. Und sie schnitten im Test genauso gut wie Schimpansen, Hunde oder Rabenvögel.
Selbstkontrolle unabhängig von Hirngrösse
Im Vergleich zu Säugern und Vögeln haben Fische relativ gesehen ein kleineres Hirn. Und bei Tintenfischen besteht das Nervensystem aus einem Netzwerk von verschiedenen Gehirnen. Eine bestimmte Hirngrösse bzw. Hirnarchitektur scheint also für diese Fähigkeit nicht nötig zu sein.
Sämtliche bisher untersuchten Säuger- und Vogelarten sind sozial lebende Arten, die auch zusammenarbeiten. Die Tintenfische hingegen sind Einzelgänger und das Sozialleben der Putzerfische basiert eher auf Konkurrenz als auf Zusammenarbeit. Also scheint auch soziales Verhalten keine Voraussetzung für Selbstkontrolle zu sein. Möglicherweise bestimmen bei diesen Arten eher ökologische Bedingungen, ob sie fähig sind, ihr Verhalten zu kontrollieren.
Welche Mechanismen diesen kognitiven Fähigkeiten zugrunde liegen, konnten die Studien indes nicht erklären. Sie zeigen jedoch, dass wir den Horizont in der Intelligenzforschung erweitern müssen.
Aellen et al. (2021) bezweifelten, dass die Hirngrösse eine gute Erklärung ist, um etwas über die kognitiven Fähigkeiten von Tieren auszusagen. Denn auch Hummeln können warten und auch Arten mit kleineren Gehirnen begegnen Situationen, in denen sie auf besseres Futter warten müssen. Daher verfolgen die Autorinnen einen ökologisch basierten Ansatz. Dieser besagt, dass das Abschneiden in solchen Aufgaben abhängig ist von deren ökologischen Relevanz, im vorliegenden Fall also, ob es für die Tiere biologisch überhaupt Sinn macht, auf Futter zu verzichten und auf besseres Futter zu warten.
Als passendes Studiensubjekt haben sie für ihre Studie Gemeine Putzerlippfische (Labroides dimidiatus) ausgewählt, eine Fischart mit vergleichsweise kleinem Gehirn und einer Nahrungsökologie, die eine gewisse Selbstkontrolle erfordert.
Diese Art lebt in Riffen und betreibt sogenannte Putzerstationen. Hier werden sie von anderen Meeresbewohnern besucht, die sich von ihnen Parasiten und abgestorbene oder infiziertes Gewebe von der Haut entfernen lassen. Allerdings mögen die Putzerlippfische den Hautschleim ihrer «Kunden» lieber als die Parasiten und beissen ihnen zuweilen ein Stück davon ab. Die Getäuschten reagieren darauf mit Angriff oder Flucht.
Die Putzerlippfische stehen also bei jedem Bissen vor der Wahl, auf den bevorzugten Hautschleim zu verzichten und den Parasiten zu wählen, damit der «Kunde» bleibt und der nächste Parasit gefressen werden kann (dies entspricht der sofortigen Belohnung). Oder er muss warten, bis der «Kunde» nach einer gewissen Zeit wieder kommt und sich wieder putzen lassen will (dies entspricht der verzögerten Belohnung). Allerdings behandeln die Putzerlippfische nicht alle «Kunden» gleich, denn häufig ignorieren sie kleinere «Kunden» und warten, bis ein grösserer vorbei schwimmt, bei dem mehr zu holen ist.
Es gibt demzufolge ökologische Argumente, warum Putzerlippfische diese Aufgabe gut meistern und eine gewisse Selbstkontrolle aufweisen sollten, wenn sie mehr Futter in Aussicht haben (Quantität). Hingegen müssen sie unter natürlichen Bedingungen kaum auf die weniger bevorzugte Belohnung, die Parasiten, verzichten, damit sie den bevorzugten Hautschleim erhalten (Qualität). Daher sollten sie bei der quantitativen (mehr Futter) besser abschneiden als bei der qualitativen (besseres Futter) Aufgabe, was durch die Test-Resultate bestätigt wurde.
Somit könnte die mangelnde ökologische Relevanz der qualitativen Aufgabe möglicherweise die schlechte Leistung der Putzer im Vergleich zu ihrer Leistung bei der quantitativen Aufgabe erklären.
In einem weiteren Schritt haben die Autorinnen die Leistung des Gemeinen Putzerlippfisches im quantitativen Test mit derjenigen des Zweifarben-Putzerlippfisches (Labroides bicolor) und der beiden Lippfisch-Arten Halichoeres trimaculatus und Halichoeres hortulanus verglichen. Der Zweifarben-Putzerlippfisch mag wie der Gemeine Putzerlippfisch den Hautschleim der «Kunden»; im Gegensatz zu ihm schwimmt er jedoch weit herum und vermeidet so, dass die «Kunden» einen anderen Putzerfisch aufsuchen.
Die beiden Halichoeres-Arten betreiben keine Putzerstationen, sondern ernähren sich von kleinen Wirbellosen, die sie im Boden suchen, oder von kleinen Fischen. Daher kommen sie nie in die Situation, auf ihr bevorzugtes Futter verzichten, damit sie später etwas Besseres erwischen.
Entsprechend wurde erwartet, dass sie im Test zur Selbstkontrolle schlechter abschneiden als die Putzerfische, was sich jedoch nicht bestätigte. Zusammenfassend kann man sagen, dass weder Grösse des Hirns noch die Nahrungsökologie des Putzverhaltens die Fähigkeit der Selbstkontrolle zu erklären vermögen, vielmehr scheint sie bei Lippfischen generell vorhanden zu sein.
Eines von vielen Videos zum Marshmallow-Test, die auf auf YouTube zu finden sind.